Anpassung und Unterordnung

Liebe Susanna,


es ist mir Freude, zu spüren, wie Dich das Leben mit Rohkosternährung beschäftigt und inspiriert, Du Dir so deine Gedanken machst, was nun richtig oder falsch sein könnte.
Du erzähltest mir von einer Bekannten, die sich seit einiger Zeit zu einem großen Teil von Rohkostnahrung ernährt. Sie macht selbst keine Gourmetrohkost, also isst sehr einfach, wodurch sie nicht viel in der Küche stehen muss und sich nicht großartig mit der Nahrungszubereitung beschäftigen muss, was sie als lästig empfinden würde.
So isst sie eben die Möhre am liebsten pur, schneidet sich ein Stück vom Kohlrabi ab oder steckt sich die Salatblätter in den Mund. Dann isst sie ihre Früchte und nebenbei auch Trockenfrüchte und Nüsse aus der Tüte. Sie mag es so einfach wie möglich und fühlt sich damit soweit wohl.
In die Möhre einfach reinzubeißen, das wäre für sie super toll und wahrer Genuss.
Sie spürt immer mehr, dass die Rohkosternährung sie wirklich nährt und sie sich von anderer Nahrung gar nicht genährt fühlt und sie sich auch körperlich hinterher nicht so wohl fühlt, wenn sie mal wieder etwas anderes gegessen hat.
Trotz des Genusses, den sie an der Rohkosternährung gefunden hat, isst sie gerne einen Eisbecher, denn, wenn sie den nicht mitessen würde, wenn sie mit Leuten zusammen ist, würde sie es als Verzicht empfinden. Sie will sich einfach ab und zu belohnen und sich Gutes tun.
Als sie kurzzeitig einen Freund hatte, hat sie mit ihm wieder jeden Morgen das übliche Frühstück mit Brötchen, Käse und Marmelade gegessen. Danach sagte sie, dass sie spürt, wie ihre Schwingung richtig runter gegangen wäre und sie sich damit gar nicht wohl gefühlt hat. Wenn sie zu ihren Eltern kommt, isst sie, was auf den Tisch kommt. Die Eltern meinen es ja schließlich gut und bereiten extra ihr übliches Lieblingsessen vor. Sie könnte ihre Eltern nicht vor den Kopf stoßen und deshalb empfindet sie es besser, sich in solchen Fällen anzupassen. So erspart sie sich Diskussionen und eventuell daraus entstehende Auseinandersetzungen.
Liebe Susanna, ich kann deine Bekannte gut verstehen, denn ich höre es oft von Leuten, die sagen, sie essen Rohkost, aber…… bei der Gelegenheit und dieser oder jener essen sie auch mal wieder ihr altes Lieblingsgericht oder essen auch einfach mit, was in der jeweiligen Gesellschaft gerade gereicht wird aus Höflichkeit und Achtung dem anderen gegenüber und außerdem genießen sie eben gerne.
Das wäre für sie halt normal und alles andere wäre Fanatismus. Auch höre ich oft, dass der Partner oder die Kinder als Grund angegeben werden, warum sie nicht ganz von Rohkost leben, obwohl sie es ja gerne würden und es unter anderen Bedingungen tun würden.
Also, es gibt genügend Gründe, warum man nicht das tut, was man angeblich gerne möchte. Die Anderen scheinen das Problem zu sein. Doch ist es wirklich so?

Die wenigen, die sich zu einer 100%igen Rohkosternährung aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus entschlossen haben und es konsequent in allen Lebenslagen leben, werden somit oft als Fanatiker hingestellt, wenn sie sich eben bei solchen Gelegenheiten nicht unterordnen und essen, was alle essen.

Nun möchte ich Dir schreiben, wie ich darüber denke.
Das, was so gerne als Anpassung dargestellt wird, ist Unterordnung, doch keine wahrhafte Anpassung. Unterordnung kommt immer aus der Angst und einem schlechten Gewissen, aus Minderwertigkeitsgefühlen oder auch aus Scheinheiligkeit, die die wahren Gründe verschleiern soll.

Als einzelnes Glied fühlt man sich schnell schwach gegen die ganze Kette von Gliedern, die man in dem Moment gegenüber vor sich sieht. Doch jeder möchte ein Glied in einer Kette sein, um die Kraft der Kette für sich nutzen zu können und sich nicht ausgestoßen fühlen als einzelnes Glied, losgelöst von der Kette.
So verraten viele ihr hochwertigen erkannten Wahrheiten, weil sie sich noch nicht an die wahrhafte Kette in ihrem Inneren angeschlossen fühlen und sich dadurch immer wieder ihrer Kraft beraubt fühlen, wenn sie sich gegen etwas Altbewährtes, was die Gesellschaft im Laufe der Entwicklung hervorgebracht hat, stellen. Sie passen sich lieber der wankelgemütigen Außenwelt an, statt der eigenen inneren Quelle.
Sie wollen etwas Neues machen und schleppen aber noch ihre alten Muster mit sich herum, die das neue Pflänzchen bei jeder Gelegenheit platt zu machen drohen.

Manche beginnen vielleicht mit der Rohkosternährung aus einer inneren Not heraus, weil sie sich davon etwas versprechen, doch es ist vielleicht nicht aus ihrem eigenen Inneren gewachsen. Sie spüren vielleicht nur, dass da Leute sind, die was Neues machen und wollen gerne dieser neuen Gruppe angehören.
Sie ernähren sich zwar zeitweise von Rohkost, doch sind emotional noch so in ihren alten Prägungen verstrickt, dass dieser kleine neue frische Zweig in ihnen von den anderen Zweigen nicht beachtet wird bzw. manchmal sogar bekämpft wird, um die eigene althergebrachte Ernährungsweise keinen Angriffen ausgesetzt zu fühlen. Wer wagt es schon, zur eigenen Mutter zu sagen, „Ich esse nur noch Nahrung im natürlichen rohen Zustand.“ Die meisten von denen, die es doch wagen, sprudeln hinterher mit Sicherheit gleich einen ganzen Schwanz von Rechtfertigungen dafür raus, damit man ja nicht weggestoßen wird. Doch das schlechte Gewissen bohrt, wenn man vielleicht das enttäuschte oder empörte Gesicht der Mutter sieht und spätestens, wenn die Tafel gedeckt ist und der vertraute Duft aus Mutters Küche in die Nase strömt, kommen die Kompromisse anspaziert und man redet sich ein, dass man eine Ausnahme macht der Mutter zur Liebe.
Die Abnabelung ist nie wirklich erfolgt, obwohl das vom Alter her längst geschehen sein müsste.

So erfolgt von vielen immer wieder eine Unterordnung bzw. man hat ein gutes Alibi dafür, dass man eben nicht das konsequent tut, von dem man behauptet, man würde ja gerne, aber….
Deine Bekannte könnte so ein Beispiel sein. Sie ordnet sich und ihre frisch gewonnene Lebensweise immer wieder unter, um ja Glied der „alten“ Kette zu bleiben und nicht ausgestoßen zu werden.
Sie möchte nicht, dass andere sich von ihr abwenden und von ihr denken, sie sei unhöflich, egoistisch, fanatisch, unangepasst.
So wird sie verunsichert und fühlt sich schuldig oder als Spinnerin oder sonst was und um Ruhe davor zu haben, nimmt sie sich zurück, macht wieder mit und nimmt es als Frieden und Harmonie wahr.
"Aber Hallo" kann ich da nur sagen.
Da findet Null Anpassung statt und hat nichts damit zu tun. Hier findet nur Unterordnung statt.
Das ist fast wie in den meisten Partnerschaften. Es wird sich permanent gegenseitig untergeordnet oder einer ordnet sich immer unter und das alles für den lieben Frieden. Das alles, weil keine wahre Synchronizität da ist.
Wahre Anpassung ist etwas anderes und findet nur zwischen Menschen statt, die sich gegenseitig respektieren mitsamt ihrer Lebensweise, ihren Gedanken, Gefühlen, ihrer gesamten Andersartigkeit.
Man begegnet sich auf Augenhöhe. Dann habe ich den Mut zu sagen: „Bei mir hat sich etwas geändert. Ich lebe jetzt so und so und ernähre mich so und so.“ Wer im Respekt für den anderen ist und den anderen in seiner Größe sieht, unabhängig davon, wie er lebt und sich gegenwärtig ernährt, hat auch den Mut das zu sagen, denn er wertet nicht die Lebensweise des anderen ab und seine nicht auf und respektiert den Menschen, der anders ist, genauso wie vorher.
Im Gegenteil, er müsste noch mitfühlender geworden sein und dankbar sein, wenn er das Gefühl hat, er hat einen Gewinn gemacht mit der neuen Lebensweise und keinen Abstieg.
Nun, ich denke hinter der Aussage, dass sie höflich und nett sein wollen und wegen der anderen noch nicht 100%ig Rohkost essen, werden meist die eigenen Gelüste versteckt, die man selbst nicht mehr annehmen will und sich im Grunde dafür selbst verurteilt. Wenn man sich als Versager fühlt, dann will man das nicht wahrhaben und gibt die Verantwortung ab, indem man versucht ist, sich in ein helles Licht zu rücken durch Scheinheiligkeit.
Dem Schmerz der Selbstverurteilung zu entgehen, werden Entschuldigungen gesucht.
Ich sage, dann doch lieber die Zuckersahneschokotorte lustvoll genießen, ohne sich dabei ein schlechtes Gewissen zu machen und dazu stehen, dass man eben nicht 100%ig roh ist oder überhaupt nicht.
Das Wichtigste sollte einem immer sein, wahrhaft authentisch zu sein und zu dem zu stehen, was man gerade gerne leben möchte. Der Rohkost essende braucht kein schlechtes Gewissen seinem Tischnachbar gegenüber zu haben, weil er nur ein Glas Wasser trinkt, wenn er nichts auf der Speisekarte findet, was seinen Wünschen entspricht und der sein Schnitzel verzehrende braucht dem Rohkost essenden kein schlechtes Gewissen gegenüber zu haben, denn der hat garantiert auch irgendwann Fleisch gegessen. Wenn er ein schlechtes Gewissen haben möchte, dann schon dem armen Schwein gegenüber, das in seinem Auftrag geschlachtet wurde. Mit seinem Bedürfnis Fleisch zu essen, erteilt er den Auftrag, ein Lebewesen zu töten, welches sich auf der gleichen Evolutionsstufe befindet wie er selbst.

Du sagtest noch, dass sie dann diese „falsche“ Kost besonders aufwertet, indem sie sie segnet.
Da kann ich nur sagen, es wird lustig aussehen, wenn die Raucher anfangen, ihre Zigarette zu segnen, bevor sie sie rauchen, statt das Rauchen sein zu lassen.
Nun, ich denke allerdings, wenn der Raucher seine Zigarette segnen würde und sie ganz bewusst rauchen würde, würde er es bald von alleine lassen und dafür lieber einen genüsslichen Spaziergang machen, denn das entspricht unserer Natur und menschlichen Bedürfnis.
Sobald ich etwas aufwerten will, halte ich es schon für minderwertig, also, warum sich nicht gleich dem Höheren zuwenden?
Es lohnt sich, zu schauen, nach innen zu schauen, was es so schwer macht, sich treu zu bleiben, etwas zu leben, womit man sich selber wohlfühlt und nicht das Gefühl aufkommt, man muss sich  überall und jedem rechtfertigen für das, was man tut und denkt und lebt.

Niemand zwingt einem, Rohkost zu essen und ein rohkostessender Mensch ist auch nicht wertvoller, als einer der es nicht tut. Also, nur keinen Stress machen, damit die Innensicht nicht mehr blockiert als gefördert wird. Die Reinigung des Körpers wird nur den gewünschten Erfolg bringen, wenn sie einhergeht mit der Reinigung von seelischem Ballast und überholten Denkmustern.

Man sollte sich in jedem Moment prüfen, ob ich mich einer Situation unterwerfen will und dafür meine eigenen Bedürfnisse zurückstelle, auch wenn es mir dafür hinterher schlechter geht oder halte ich mein Andersdenken und Anderssein aus und nehme das Risiko in Kauf, dass die anderen mich nicht mehr gerne einladen.
Liebe Susanna, es lohnt sich immer, zu sich zu stehen. Du kannst Dich so oder so verhalten und es auch in jedem Moment neu entscheiden. Das ist alles in Ordnung. Hauptsache, Du fühlst Dich wahrhaft gut damit und deine Entscheidung kommt aus deinem Herzen.
Dann werden auch niemals andere für deine Entscheidungen verantwortlich sein und Du lässt sie frei von Schuld und kannst jeden achten so wie er ist.

Auf die Bemerkung, dass deine Bekannte sich belohnt mit dem Eisbecher werde ich in einem nächsten Brief eingehen. Denn für mich steht die Frage. Wieso belohnt man sich mit etwas  „Schlechterem“, wenn ich gerade etwas „Besseres“ gefunden habe und wenn es nicht besser ist, warum tue ich es dann überhaupt?

Ein weiteres interessantes Thema ist „Essenzubereitung – in der Küche stehen“. Wer will das noch?
Kann das was Tolles, Wertvolles, Lebenswertes und Erfüllendes sein, sehr viel Lebenszeit in der Küche zu stehen und sich um die Nahrungszubereitung kümmern für seine Nächsten?

 

Bis dahin

Frohe Grüße
Malina
GesundheitsPraktikerin (FFL)

 

 

 

 

 

„Auch die Schule kann die Verstandesbildung,

den Intellektualismus, einseitig zu ungunsten der Lebensweisheit und Verinnerlichung fördern.

Statt die Unlust durch Lebensordnung und durch innere Sammlung zu überwinden, jagt man den Zerstreuungen

und Vergnügungen nach.....
Es ist höchste Zeit, dass die Kulturmenschheit

ins Reich der Ordnungen zurückkehrt.

Dies ist der große Heilweg, die Therapia magna.“

 

Dr. Bircher Benner


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